Der Deutsche, der sich beim Insel Man Tourist Trophy (TT) Motorradrennen verirrte: Eine Geistergeschichte von der Insel Man

Isle of Man TT logo

Von den steilen Abhängen des Berges Snaefell senkte sich eine dunkle Nebelbank herab und hüllte alles in ihre Bahn. Zuerst schwebten nur hellgraue Wolkenfetzen über der TT Motorrad-Rennstrecke in den Bergen und rollten ins Laxeytal hinunter. Eine feuchte Decke von Dunkelheit folgte bald. Diese Bergnebel kὂnnen schnell und manchmal ohne Warnung kommen.  Sie sind ein Merkmal des berühmten Manx Motorradrennens, des besten und schwierigsten Motorradrennens der Welt. Wenn die Bergnebel fallen, gibt es keinerlei Sichtweite und das Rennen muss unterbrochen werden, bis sie sich heben, manchmal beinahe so schnell wie sie gekommen sind.

Jim Quayle war ein Marshal auf dem „Verandah”-Abschnitt der Rennstrecke.  In den letzten zehn Jahren hatte er sich jedes Jahr freiwillig als Marshal gemeldet.  Die 37¾ Meilen lange Strecke benötigt mindestens 500 Marshals, stationiert auf den verschiedenen Abschnitten. Die höchste Stelle der Rennstrecke liegt 422 Meter über dem Meeresspiegel.  Jim liebte es, auf dem bergigen Abschnitt der Rennstrecke stationiert zu sein, obgleich es ab und zu frustierend sein konnte, wie eben heute, wenn der Nebel fiel und man warten musste, bis „Mannanan” sich entschied, seinen Nebelumhang zu heben.  „Mannanan” ist der keltische Seegott, von dem sich der Name der Insel Man (Manx:  Mannin) ableitet. Der Sage nach würde er die ziehenden Nebelschwaden benutzen, um die Insel vor ihren Feinden zu verstecken und zu beschützen.

Isle of Man TT course map

Jim war am „Graham-Denkmal”, einer kleinen aus Stein erbauten alpinen Berghütte am Berghang nahe einer scharfen Linkskurve der Strasse.  Es war ein Denkmal für Les Graham (14. September 1911 – 12. Juni 1953), einem ehemaligen 500 c.c. Motorradweltmeister, der 1953 auf der Insel als Mitglied der italienischen MV Augusta Mannschaft im Seniorenrennen ums Leben gekommen war. Diese Rennstrecke hat im Laufe der Jahre viele berühmte Motorradfahrer herausgefordert, ihre Strassenrennfertigkeiten bis ins Extrem auf die Probe zu stellen. Einige von ihnen haben ein trauriges Ende gefunden, wenn sie etwas über ihre Fähigkeiten hinaus gegangen waren. Das erste internationale Isle of Man TT Motorradrennen wurde im Jahre 1907 abgehalten und die Snaefell Bergroute wurde 1911 zum erstenmal benutzt.

Jim liebte die Geschichten und Traditionen des Rennens. In der Nähe seines Hauses im Dorf Ballaugh, das auf dem tiefergelegenen Abschnitt der Rennstrecke liegt, gibt es eine Tafel an einer Mauer zur Erinnerung an Karl Gall. Jim schaute sie jedesmal an, wenn er vorbeiging.  Karl Gall (27. Oktober 1903 – 13. Juni 1939), in Wien in Ӧsterreich geboren, war ein ehemaliger deutscher Nationalmotorradmeister. Als Mitglied der BMW Mannschaft wurde er am 2. Juni 1939 bei einem Unfall in Ballaugh schwer verletzt und er starb später an seinen Verletzungen. BMW erwägte, aus Respekt für Gall aus dem Rennen auszuscheiden, aber schliesslich blieben sie doch dabei und Galls deutscher BMW-Mannschaftskamerad Georg „Schorsch” Meier (9. November 1910 – 19. Februar 1999) gewann das Seniorenrennen.

Die TT Rennen zieht viele deutsche Motorradenthusiasten an als gern gesehene Besucher der Insel Man und beliebt bei den Manx Leuten.  Ihr Beitrag zu den Rennen im Laufe der Jahre ist beachtlich gewesen und Jim liebte ihre Begeisterung.

Angesichts des sich verdichtenden Nebels wusste Jim, dass sich der Start des Rennens heute sehr verzögern würde.  Ein Temperatursturz, als die graue Wand fiel, machte ihn unruhig.  Er zitterte, als der feuchte Dunst seine Kleider durchdrang und die Kälte ihm bis auf die Knochen ging.  Nachdem er mit den Füssen aufgestampft und sich die Hände gerieben hatte in einem vergeblichen Versuch, sich zu wärmen, beschloss Jim, an etwas anderes denken, um sich abzulenken. Diese rollenden Nebel berühren einen abergläubischen Nerv in den Manx Leuten und werden mit den Sagen und der Folklore assoziiert, die weit in die vorchristliche Geschichte dieser keltischen Insel inmitten der Irischen See zurückreichen. Viele dieser Sagen sprechen von den Nebeln als einem Zugang zu einer anderen Welt, wo mythische Geschöpfe und die Seelen der Verstorbenen wohnen.

Jim sagte den anderen Marshals, dass er sich die Beine für einen Augenblick vertreten müsse, aber nicht lang fort bleiben würde. Er begann die „Verandah” ein Stück nach Norden entlangzulaufen und blieb dabei auf der Strassenseite, die dem Snaefell zugewandt ist. Es war bei diesem Wetter wichtig, nicht von der Strasse abzukommen, denn man konnte sich im Nebel der Manxberge leicht verirren. Jim vermochte kaum etwas vor sich zu sehen. Die Nebel schufen eine seltsame Atmosphäre, in der man der Fantasie freien Lauf geben konnte. Geräusche konnten verzerrt werden und verschwommende Bilder aus dem Nichts auftauchen, erschaffen und gestaltet von den kreisenden Nebeln.  Beim Laufen dachte Jim an die Motorradfahrer, die in dieser Reihe von Kurven zwischen dem 29. und 30. Meilenstein des TT Rennens ums Leben gekommen waren.

Fog over mountains

Alles war so still, während Jim weiterlief. Er konnte nur das Geräusch seiner Schritte auf der harten Strasse hören. Jim hielt an und lauschte. Die Luft stand still, ohne die geringste Brise. Kein Vogel rief, die Schafe waren still und das Gras auf dem Hang rührte sich nicht. Vielleicht würde er nicht viel weiter gehen, denn ohne ersichtlichen Grund fühlte er sich heute unruhig.  Doch Jim meinte, er sei töricht, und um seine unbekannte Furcht zu bezwingen, beschloss er, noch ein bisschen weiter die „Verandah” entlangzulaufen.  Gerade als er umkehren wollte, hörte er den Lärm eines Motors in der Ferne.

Er hielt an und versuchte, in den undurchdringlichen Nebel zu blicken. Er lauschte angestrengt und hörte das tiefe, unverkennbare Geräusch eines BMW Kompressors der grossen ikonischen Maschinen der Dreissigerjahre. Wer könnte da auf den gesperrten Strassen auf so einer Maschine sein, dachte er.  Jim konnte nicht feststellen, wie weit das Motorrad entfernt war. Der Nebel verzerrte alles. Er stand bewegungslos und hörte die Maschine immer näher kommen. Dann war Stille. Jim musste das untersuchen; es war seine Pflicht als Marshal sicherzustellen, dass die Strassen für das Rennen frei blieben . Es könnte ein besuchender Motorradfahrer sein, der aus Versehen auf die Rennstrecke geraten war – alles war möglich. Beim Näherkommen hörte Jim nur seine eigenen Schritte. Dazwischen war absolute Stille. Jedoch hatte er ein starkes Gefühl, dass jemand oder etwas hinter oder neben ihm war. Er fühlte sich beobachtet und voller Angst. Er sah sich um und konnte niemand sehen, aber er hatte das tiefe Gefühl einer Anwesenheit.

Noch einmal hielt er an. Es war schwer für ihn, der Versuchung zu widerstehen, sich umzudrehen und wegzulaufen. Obgleich der kalte Nebel seine Kleidung noch durchdrang, konnte er die warmen Schweisstropfen auf seiner Stirn fühlen, die sein Gesicht und den Hals hinunterliefen bis in den Kragen. Jim zitterte, eine Reaktion auf die Kälte, die von Furcht und nicht von der kühlen Bergluft verursacht wurde. Er hörte Schritte auf sich zukommen, unverkennbar und gleichmässig.  Als sie näherkamen, unheimlich und beunruhigend, fühlte Jim sich verwirrt.

View of TT course Isle of Man

Er starrte vor sich hin und die dunkle Gestalt eines Mannes begann aus dem dichten Nebel aufzutauchen, in schwarzer Kleidung mit einem altmodischen Sturzhelm. Jim war etwas erleichtert, eine menschliche Gestalt zu sehen.  Es gab viele begeisterte Motorradfahrer auf der Insel; einige fuhren altmodische Motorräder und trugen Kleider im selben Stil.  Der Mann näherte sich, hob die Hand zum Gruss und sagte in einer klaren, sachlichen Stimme:  „Grüss Gott”. Ah, dachte Jim, ein Deutscher oder vielleicht ein Ӧsterreicher. Er würde ihm helfen, den Weg von der Rennstrecke und in die Sicherheit zu finden. Jim wünschte ihm auch einen guten Morgen, aber bevor er noch etwas sagen konnte, sagte der Mann auf Deutsch: „Ich weiss nicht, wo ich bin.”

Jim antwortete auf Englisch: „You don’t know where you are?” Das war die Erklärung, er hatte sich verirrt. Jim fühlte sich sehr erleichtert, dass er mit etwas zu tun hatte, was er erleutern konnte, anstelle von wilden Vorstellungen, wie er sie vor einem Augenblick erfahren hatte.

„Ich habe mich eine lange Zeit verlaufen,” sagte der Mann und dann auf Englisch mit einem starken deutschen Akzent: „I have been lost a long time.  Können Sie mir helfen?”

„Ja, ich kann Ihnen helfen,” antwortete Jim. „Es ist leicht, sich hier oben zu verirren, aber Sie sollten nicht auf der Strecke sein, wenn die Strassen für das Rennen gesperrt sind.”

Der Mann lächelte, ein warmes, freundliches Lächeln. Seine blaue Augen sahen Jim fragend an: „Ja, Rennen auf der Insel Man”. Er sah, dass Jim ihn nicht gut verstehen konnte, und sprach weiter auf Englisch: „Ja, Rennen auf der Insel Man. Jetzt muss ich nach Hause gehen. Ich bin hier so lang verirrt gewesen und meine Famile vermisst mich.”

Jim meinte, dass dieser Mann wirklich verwirrt war, und wollte ihn beruhigen. „Ich heisse Jim. Wie heissen Sie und wo ist Ihr Motorrad?”

Der Mann dachte einen Augenblick nach, als ob er sich zu erinnern versuchte, wie er hiess. „Mein Name ist Peter. Ja, mein Name ist Peter.” Er schüttelte Jims Hand voller Eifer. „Ich habe so lange gewartet, dass mich jemand findet.”

„Kommen Sie,” sagte Jim. „Wir müssen Ihr Motorrad holen und dann kann ich Sie in Sicherheit bringen.”

Ein kurzer Schatten von Trauer flog über Peters Augen. „Es ist ganz in unserer Nähe, Jim. Wenn Sie hier warten, ich kann es holen.  Vielen Dank für Ihre Hilfe.  Ich brauchte nur, dass jemand mich finden würde, Jim. Warten Sie hier. Es wird mir jetzt gut gehen.” Er drehte sich um und lief in den Nebel zurück.

Jim wartete auf das Geräusch eines Motors und bemerkte währenddessen, dass der Nebel sich hob, sich schnell die Hänge des Snaefell hinauf zurückzog.  Er blickte die Strasse entlang, in der Richtung, wo Peter gegangen war. Die Strasse war jetzt frei, es gab weder ein Zeichen von Peter noch das Geräusch eines Motors. Wo war er hingegangen? Jim lief den „Verandah”-Abschnitt entlang, bis er zu einer anderen Gruppe von Marshals kam. Niemand war bei ihnen vorbeigegangen, weder bevor oder nachdem sich der Nebel gehoben hatte.

Karl Gall leac

Jim lief die Strasse zurück, denn er musste zu seinem Abschnitt zurückkehren, bevor das Rennen begann. Dabei hatte er ein überwältigendes Gefühl von Traurigkeit. Es ist in der Seele der Manx Leute, das Unbekannte zu respektieren und zu akzeptieren. Diese Insel hat ihre Geheimnisse, aber nur ab und zu tauchen sie aus dem Nebel auf. In seinem Herzen wusste er, was er erlebt hatte. An diesemöm nebligen Tag war ein Mann aus der Vergangenheit getreten, eine  Gestalt aus den Dreissiger Jahren, ein Tourist Trophy Rennfahrer, wie so viele, die im Lauf der Jahre gekommen waren, um ihre Fähigkeiten in dem schwierigsten Motorradrennen der Welt zu testen, wie so viele, deren Träume im Tod geendet haben.    

Als Jim diese Nacht nach Ballaugh heimkam, dachte er ruhig nach. Er verliess  sein Haus und ging zur Gedenktafel von Karl Gall. Er sah sich ein bisschen schamhaft um und legte die Hand auf das Bild: „Sagen Sie dem Peter, dass ich mich freue, ihn gefunden zu haben.”  Dann ging Jim nach Hause; er wusste, dass er nie jemandem erzählen würde, was er an diesem Tag in den nebligen Manx Bergen erlebt hatte.

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